Der Name Tujetsch gilt für das ganze Tal von der Oberalp bis ausserhalb Bugnei. Ein Dorf Tujetsch hat es nie gegeben. Gatschet ist der Ansicht, Tavetsch und Tujetsch kämen vom mundartlichen Wort tigia = tegia = Sennhütte und der Endung -etia her, hätte also die Bedeutung: Tal mit Sennhütten. Diese Namensdeutung des Tales durch seine ersten spärlichen Besiedler erscheint natürlich. Eine zweite Version, die Tujetscher seien Nachkommen der Aethuathier und der Name stamme vom keltischen diwez = Grenze, ist weniger wahrscheinlich. In den ältesten Urkunden findet man für den Namen verschiedene Schreibweisen: 1259 Thiuesch, 1300 Thivez, 1390 Thifetz, 1538 Thyfetsch, 1563 Dauetsch, 1651 Tuytsch. Seit Ende August 1976 gilt der romanische Name Tujetsch.
Erwähnt wird der Name Tujetsch zum ersten Male in einer Urkunde anlässlich der Weihe der Pfarrkirche von Sedrun im Jahre 1205 (Eintrag im Jahrzeitbuch von 1456). Von der damals offenbar eben errichteten und neu geweihten Kirche ist der heutige Turm erhalten. Die heutige Kirche datiert vom Jahre 1691. Die erste Kirche stand wesentlich westlich. Der Eingang zum Turm lag beim linken Seitenaltar. Also war der Turm an der Nordseite des damaligen Schiffes und nicht wie heute vor der Front plaziert. Der Grund für die Versetzung der Kirche weiter östlich wird die Gefährdung durch den Drun-Bach gewesen sein.
Das schöne, grosse St. Georgbild, s. Gieri, am Turm soll vom Maler Felix Diogg, geboren 1762, herrühren. Dieser stammte aus einem alten Bürgergeschlecht des italienischen Val Formazza. Sein Vater hatte eine Catrina Deflorin von Tschamut zur Frau und wohnte in Andermatt. Als im Jahr 1766 dessen Haus in Andermatt abbrannte, zog er mit seiner Habe nach Tschamut hinüber auf ein Bauerngut seiner Frau . Gegen 1785 malte Felix Diogg den s. Gieri am Turm. Diogg ist bekannt geworden als guter Porträtist. 1834 starb er in Rapperswil.
Der heutige Hochaltar wurde 1702 von Johann Ritz, Bildhauer von Selkingen im Wallis geschaffen. Das Honorar betrug 230 Reichstaler und war nach dem abgeschlossenen Vertrag zur einen Hälfte in bar und zur andern in Vieh zu bezahlen. Die beiden Seitenaltäre neben dem Choreingang werden zwar im Vertrag mit Ritz nicht genannt, doch dürften sie aus der gleichen Werkstatt hervorgegangen sein. Dafür spricht die Komposition des Aufbaues. Das Bild am Hochaltar stellt die Steinigung des s. Vigeli (hl. Vigilius, Kirchenpatron) dar. Das Bild ist signiert: „Sigisbertus Frey pinxit 1703 ". Es ist eine der schönsten Arbeiten dieses Malers von Disentis. Der Vertrag vom 2. Juli 1703 bestimmte, dass er „den grossen quader in der pfarrkirchen auff den Choraltar zu mahlen auff dass allerschönste, so es meglich ist".
Judenkapelle
Als eine Sehenswürdigkeit sei an dieser Stelle noch eine kleine Kapelle
in Sedrun erwähnt, "il sontget dils Gedius" (Judenkapelle). Diese
wurde 1925 vergrössert und verschönert. Der Raum umschliesst vier
personengrosse Holzfiguren. Der alte Gion Antoni Curschellas aus Bugnei und
der Sep Antoni Caviezel aus Sedrun sahen in den dreissiger Jahren des vorigen
Jahrhunderts (1835) auf einer Wallfahrt nach Einsiedeln das Original dieser
Gruppe als Station eines Kreuzganges am Hakenpass. Dies machte auf die beiden
Tujetscher Wallfahrer einen solch tiefen Eindruck, dass sie durch den Disentiser
Bildhauer Gion Battesta Andreoli eine genaue Nachbildung machen und bemalen
liessen. 1837 wurde die Skulptur nach Sedrun gebracht und einstweilen in einem
Zimmer des ehemaligen Pfarrhauses aufgestellt. Diese Stube hiess nachher
immer „la stiva dils Gedius" (Judenstube).
Kirchen
und Kapellen
Bemerkenswert ist eine Urkunde aus dem Jahr 1367, welche von einer Kapelle in
Flurin oberhalb Rueras berichtet. In Rueras wurde die erste Kapelle im Jahr
1491 eingeweiht zu Ehren des hl. Jakobs, s. Giachen. Die heutige Kirche stammt
aus dem Jahr 1731. Nicht weniger als sechs Gotteshäuser wurden im
Laufe des 17. Jahrhunderts neu erstellt oder rekonstruiert. So im Jahr
1609 die Kapelle in Cavorgia,
1622 die Kapelle in Zarcuns,
1630 die Kapelle in Selva,
um 1650 die Kapelle in Giuf oberhalb von Rueras,
1679 die Kapelle im Weiler Surrein/Foppas,
1691 die Neuerrichtung und Vergrösserung der Kirche von Sedrun.
Diese Bautätigkeit ist zurückzuführen auf die Reaktion der katholischen Gebiete auf die Reformation in der näheren Umgebung.
Die Kapelle in Tschamut stammt aus der Zeit des 15. Jahrhundert. Sie ist bekannt geworden durch die wunderbar geschnitzte Decke. In Camischolas befindet sich gleichfalls eine Kapelle aus der selben Zeit mit einem wunderbaren gottischen Altar von aus dem Jahre 1517. Bei der Restauration von 1998/99 wurden Bilder sichtbar im Chor der Kapelle. Heute sind sie restauriert un verschönern die wunderbare Kapelle zu Ehren der hl. Anna.
Besiedlung
Die Besiedlung des Tales wird wohl nach der Gründung (614) des Klosters
Disentis im 8/9. Jahrhundert begonnen haben. Vorher war das Gebiet von Tujetsch
mit Wald bedeckt, bis auf die Oberalp, romanisch Cuolm d’Ursera, und zum Tomasee
hinauf.
Beim Bau der Furka-Oberalp Bahn 1912 kamen auf dem Oberalppass grosse Baumstämme
zum Vorschein. Zur Römerzeit, als Augustus Kaiser des Römerreiches
war, bildete Rhätien mit dem Wallis eine Provinz unter dem gleichen Prokurator.
Man darf deshalb mit Berechtigung den Schluss ziehen, dass sich zu jener
Zeit schon ein für Krieger begehbarer Weg von Chur über den Oberalp-
und Furkapass durch das Wallis hinzog. Aus dem Mittelalter haben sich Urkunden
erhalten, welche erkennen lassen, dass ein reger Handelsverkehr mit Ochsenwagen,
Eseln, Saumtieren und Trägern zwischen Sitten und Chur, also auch durch
das Tal Tujetsch, bestand. 1253 z.B. findet man in Sitten als Zeugen einen Warnerus
und einen Martinus, beide Säumer aus Chur, angegeben. Ein anhaltender
Handelsverkehr zwischen Wallis und Chur geht auch aus einer Urkunde von 1420
aus Urseren hervor, in der es heisst: „als denne die von Kurwalchen (Chur) und
die von Wallis durch unser Tal farent und fil Wandlung (Wanderung), hant mit
ir som (Saum) rossen". Die rege Verbindung zwischen dem Wallis und Chur
beweisen auch die Tatsachen, dass Bischof Friderich I. von Chur mit dem Bischof
Peter von Sitten 1282 ein Schutzbündnis abschloss und 1288 in Urseren zwischen
Abt Simon von Disentis ein solches mit fünf Walliser Herren.
Eine Strecke des alten Oberalpweges bei Bugnei wurde noch vor wenigen Jahrzehnten die „via romana" (Römerweg) genannt. Durch den Bau der neuen Strasse 1862/63 erfuhr der Verkehr über die Oberalp eine grosse Belebung. Die Postkutschenromantik entstand. Vom 15. Juni bis 15. September bestanden zwischen Chur und Göschenen in jeder Richtung zwei Postpferdekurse. Die Kutschen verschwanden erst 1925, als das Automobil in Graubünden eingeführt wurde.
Auch strategisch hatte der Oberalppass schon früh Bedeutung. Anlässlich der vazischen Fehden (1333), dann im Schwabenkrieg und in den Bündner Wirren (1613 - 1643) begingen mehrmals Truppen die Oberalp. Auch während der französischen Revolution spielte dieser Pass eine wichtige Rolle. Am 6. März 1799 drangen die französischen Truppen unter der Führung von General Loison über die Oberalp nach Disentis vor. Die Bevölkerung von Tujetsch hatte unter diesem Einfall schwer zu leiden. Das ganze Tal wurde geplündert und mehrere Personen getötet. Darunter war auch der Kaplan von Rueras, Giachen Antoni Condrau. In Disentis erlebte aber die französische Truppe eine unerwartete Niederlage. Durch ein taktisches Manöver wurden die Franzosen vom Oberländer Landsturm besiegt und in die Flucht geschlagen. Ein Teil flüchtete über die Oberalp und andere über den Lukmanier. Nach kurzer Zeit rückte aber der französische General Demont, ein gebürtigter Bündner, mit seinen Truppen von Chur nach Disentis vor. Die geflüchteten Soldaten Frankreichs kamen wieder über die Oberalp und über den Lukmanier nach Disentis zurück. Im Juli 1799 verliessen die französischen Truppen endgültig die Cadi, wobei ihnen die Männer von Tujetsch bei der Ueberquerung der Oberalp behilflich sein mussten.
Mit dem Bau der Furka-Oberalp-Bahn wurde 1911/12 begonnen. Die Arbeiten wurden aber 1915 wegen finanziellen Schwierigkeiten und wegen des ersten Weltkrieges unterbrochen. 1924 nahm Ing. Erminio Bernasconi die Arbeiten wieder auf. Zwei Jahre später, 1926, fand die Einweihung statt. Die Elektrifizierung, erfolgte 1942. Von diesem Zeitpunkt an wurde der Betrieb auch im Winter aufrechterhalten. Der Oberalppass bildet zusammen mit dem Furkapass die einzige ost- westliche Verbindung in den Schweizer Alpen. Die grosse strategische Bedeutung liegt auf der Hand. Heute spielt der Oberalppass für die ganze Schweiz und besonders für das Bündner Oberland in volkswirtschaftlicher und touristischer Hinsicht eine überaus wichtige Rolle.
Laut Giachen Casper Muoth erfolgte die Besiedlung des Tujetsch von drei Seiten: von Uri und Wallis, von Medel und Tessin und von Disentis. Das bezeugen Familien- und Ortsnamen. Die deutschen Einwanderer über die Oberalp kamen im 12. Jahrhundert und siedelten sich zuerst in Tschamut und Selva an. So sind die deutschen Flurnamen wie Müren, Mülimat, Platte, ze Mut (Tschamut), im Holz (Selva) verständlich. Typische Walser Geschlechternamen, wie Schnider und Schuhmacher sind in Tujetsch urkundlich belegt. Die Familiennamen Loretz, Hitz, Schmid, Hendry, Berther und Monn sollen ebenfalls walserischen Ursprungs sein. Die Walser in Tschamut bildeten eine Gemeinschaft für sich. Sie besassen nicht das Bürgerrecht von Tujetsch, unterstanden aber auch dem Gotteshaus von Disentis, wie die übrigen Einwohner von Tujetsch. Wer das Bürgerrecht erwerben wollte, musste sich einkaufen, wie der Tschamuter Jon Martin Snider 1613.
Die Selbstständigkeit der Walserkolonie wird auch durch die Tatsache ersichtlich, dass Tschamut bis 1861 eine eigene Alp und Heimweiden vom Kloster besass. In einer Urkunde von 1398, erneuert 1543, zwischen den Leuten von Tschamut und dem Gotteshaus heisst es: "Dytz sindt die Rechtung lüten uff Schamuot, die da sesshaft sindt. Die henndt hüss und hoff, aker und wyssen und al ir Nachkomenden, dz die söndt unss and unnsrenn gotzhuss und unnsren nachkommen jarlichen gebenn von der alpe Suegenn, die stost an einen thail zuo an die alp, die da Maigels genamt ist, und die halb stosset an dz wasser, dz da rünenn ist vonn der alpe im Maigelss jnn die gueter Muelimat, und den andrent zuo stost an dem Wasser, dz da rindt zuwischen der thallütenn almaine und derselben alpenn. Undt sondt unnss die genannten vonn Schamuotenn alle jar jarlichen von der alpen daselb richtenn (und) werenn vier schilling an werdt kessen (vier Schilling an wert Käse) jnn unnssren gotzhuss ze tissendis, des uff sannt Martisstag". Der jährliche Zins bestand zuerst in 140 Krinnen Fettkäse, später zahlte man jährlich Fr. 80.47. Nach der Vereinbarung vom 15.4.1861 verkaufte dann das Kloster die Alp der Dorfschaft für die einmalige Summe von Fr. 2000.-, zahlbar am Martinitag 1861 mit einem Zins von 5% dazu.
Vollständig der Gemeinde Tujetsch einverleibt wurden die Einwohner von Tschamut erst im Jahre 1866. In der Vereinbarung vom 4. März desselben Jahres heisst es: „Die Dorfschaft Tschamut übergibt der Gemeinde Tujetsch die Alp, die sie für sich besass. Dafür haben die Leute von Tschamut von dem Tag an Anteil an allem, was die Gemeinde besitzt. Sie haben wie die andern Gemeindebürger die gleichen Rechte und Pflichten. Die Gemeinde übernimmt für den neuen Besitz Schulden der Dorfschaft im Betrage von Fr. 7379.02 und zahlt noch jeder der 12 ½ Haushaltungen Fr. 400.--".
Von einer starken Einwanderung aus dem Medelsertal zeugen eine Menge Geschlechtsnamen von alten Familien in Tujetsch, wie die de Medell, de Mutschnengia, de Curaglia, de Perdé, de s. Gall, de Soliva etc. Lauter Namen, welche die Herkunft von noch existierenden Höfen im Medelsertal beweisen.
Das Gebiet Tujetsch, 134 km2, das dem Kloster Disentis einverleibt war, wurde von Ministeralien des Gotteshauses verwaltet. Diese hatten ihren Sitz in der im 11. Jahrhundert erbauten Burg Pontaningen (Putnengia) bei Rueras. Eine Urkunde von 1252 erwähnt die Ritter von Pontaningen und eine von 1285 die beiden Brüder Hugo und Wilhelm, Guglielm von Pontaningen als Ministeralien des Gotteshauses. Die bedeutenste Persönlichkeit aus diesem Geschlecht war Abt Peter von Pontaningen, Abt von 1402 - 1438. Im Jahre 1395 wurde der Graue Bund gegründet und Peter von Pontaningen erneuerte diesen im Jahre 1424 in Trun. Das Geschlecht von Pontaningen soll im 16. Jahrhundert ausgestorben sein.
Kloster
Disentis
Nach einer Urkunde von 1325 gab es aber schon damals freie Gemeindebürger
(vicini de Tuvez) im Tujetschertal. Im Verlauf der Zeit wurden aber die
Volksrechte, besonders in ökonomischer Hinsicht mehr und mehr erweitert.
Neben den wirtschaftlichen Rechten erhielt das Volk auch politische Privilegien,
die es unter andern auch an der Landsgemeinde von Disentis verwirklichen konnte.
Trotzdem behielt das Kloster viel Besitz und übte im Tale grossen Einfluss
aus, bis zur französischen Revolution und noch etliche Jahrzehnte darüber
hinaus. So gehörten die Alpen Val Val und Val Giuv dem Klosterstaat Disentis.
Tujetscher Bauern pachteten diese Alpen, entrichteten dafür jährlich
dem Kloster eine Abgabe von 600 Krinnen (450 Kg) guten Alpkäse. Jeweils
am Martinstag (11. November) brachten die Bauern ihre Käselaibe nach Disentis.
Als Dank bot ihnen das Kloster einen Imbiss an. Mit der Zeit benützten
jedoch noch andere Talbewohner diese Gelegenheit, sodass das Kloster an diesem
Tage das halbe Tujetsch zu verpflegen hatte. Dadurch wurde das verarmte Kloster
stark belastet. Das dauerte bis 1866. Den Bauern war die Käseabgabe
schon lange verleidet. Sie offerierten 1861 dem Kloster eine Summe von Fr. 7650,
um sich davon loszulösen. Das verarmte Kloster konnte das Geld gut
gebrauchen und war damit einverstanden. Auf den Imbiss wollte die Tujetscher
Bevölkerung jedoch nicht verzichten. Nach langen Verhandlungen musste sich
der Abt im Jahre 1866 bereit erklären, Fr. 2000.-- von der Summe von Fr.
7650.-, abziehen zu lassen.
Auch in kirchlicher Hinsicht
bestanden enge Beziehungen mit Disentis. Die Pfarrkirche Sedrun galt als Eigenkirche
des Klosters. Darum hatte der Abt das Kollaturrecht inne. Dieses Priviligium
wurde schliesslich durch das Präsentationsrecht ersetzt. 1810 schlug der
Disentiser Abt dem Bischof von Chur den Pfarrer von Sedrun zum letzten Mal vor.
Infolge der engen kirchlichen Beziehungen waren verschiedene Patres als Seelsorger
im Tujetsch tätig. Der berühmteste unter ihnen ist zweifellos Placidus
a Spescha. Von 1809 -1812 wirkte er als Kaplan in Selva, danach war er
bis 1814 in der gleichen Eigenschaft in Sedrun tätig. In dieser Zeit hat
er Land und Leute von Tujetsch gut kennengelernt. Das bezeugt seine noch
heute interessante kritische Abhandlung über unser Tal: Die Beschreibung
des Tavetschertales im Bündner Oberland 1805. Die Beziehungen mit
dem Kloster sind im allgemeinen gut gewesen. Das beweist auch die Tatsache,
dass zahlreiche Tujetschins ins Kloster eingetreten sind. Vier von ihnen wurden
sogar zu Aebten erhoben:
Peter von Pontaningen 1402 - 1438
Albert II de Medell 1655
- 1696
Gallus Deflorin
1716 - 1724
Anselm Quinter
1846 - 1858
Höfe,
Weiler und Dörfer
Nach, einem Jahrzeitbuch oder Aniversar von 1456, dem Gemeinde-Zinsrodel von
1555 und anderen Urkunden zählte Tujetsch zur damaligen Zeit 66 einzelne
oder grössere Höfe. Erst im 17. und 18. Jahrhundert rückten
die Talbewohner von Tujetsch immer mehr zusammen. Man verliess die höher
gelegenen Höfe, die infolgedessen zu Maiensässen und aclas oder Gadenstätten
wurden, und siedelte in den Höfen auf der Talsohle und an der Strassenrichtung
über die Oberalp, in der Nähe der Kirchen und Kapellen, die mittlerweile
dort entstanden waren. Dort war man auch gegen Lawinen und Hochwasser
besser geschützt. Auch war das Klima hier milder und in einem Notfalle
war Hilfe schneller vorhanden. 1768 bestanden nur noch 17 Höfe. Eine
der zuletzt verlassenen Hofsiedlungen ist Giuv ob Rueras. 1805 befanden sich
dort noch zwei Häuser. Heute ist bloss die Kapelle zu Ehren des Hl.
Sebastian vorhanden, welche an den einst besiedelten Hof erinnert. Das letzte
Haus der Siedlung Cavorgia-sura wurde 1850 abgebrochen und nach Sut Crestas
in Selva transportiert.
Fast unbegreiflich erscheint es, wie soviele Menschen früher in Tujetsch
leben konnten. Zählte doch das Tal im Jahr 1835 1121 Einwohner. Bei der
Zählung der Bevölkerung von 1768 ist die genaue Einwohnerzahl jedes
der noch bestehenden 17 Höfe angegeben:
Tschamut | 14 | Haushaltungen | mit | 67 | Personen |
Selva | 19 | Haushaltungen | mit | 95 | Personen |
Giuv | 5 | Haushaltungen | mit | 22 | Personen |
Rueras | 51 | Haushaltungen | mit | 212 | Personen |
Zarcuns | 8 | Haushaltungen | mit | 23 | Personen |
Camischolas | 17 | Haushaltungen | mit | 77 | Personen |
Salins | 8 | Haushaltungen | mit | 27 | Personen |
Gonda | 17 | Haushaltungen | mit | 64 | Personen |
Sedrun | 38 | Haushaltungen | mit | 136 | Personen |
Bugnei | 12 | Haushaltungen | mit | 46 | Personen |
Nacla e Canadal | 4 | Haushaltungen | mit | 18 | Personen |
Foppas | 6 | Haushaltungen | mit | 19 | Personen |
Surrein | 7 | Haushaltungen | mit | 35 | Personen |
Cavorgia | 5 | Haushaltungen | mit | 17 | Personen |
Il Plaun | 2 | Haushaltungen | mit | 8 | Personen |
Cavorgia-sura | 3 | Haushaltungen | mit | 20 | Personen |
Nislas | 2 | Haushaltungen | mit | 8 | Personen |
Total | 115 | Haushaltungen | mit | 884 | Personen |
Bevölkerundentwicklung
in Zahlen
Jahr | 1718 | 832 | Jahr | 1860 | 863 |
1730 | 798 | 1870 | 847 | ||
1768 | 884 | 1880 | 768 | ||
1778 | 811 | 1888 | 768 | ||
1786 | 904 | 1900 | 810 | ||
1791 | 994 | 1910 | 915 | ||
1796 | 1097 | 1920 | 929 | ||
1802 | 858 | 1930 | 1002 | ||
1803 | 900 | 1940 | 935 | ||
1805 | 860 | 1950 | 1105 | ||
1808 | 900 | 1960 | 1957* | ||
1835 | 1121 | 1970 | 1437 | ||
1838 | 850 | 1980 | 1547 | ||
1848 | 879 | 1990 | 1633 | ||
1850 | 978 | 1999 | 1748 |
* inkl. Gastarbeiter bei
der Errichtung der Stauseen Nalps und Curnera
Auswanderung
In den Jahren 1850 bis 1880 gab es einen starken Rückgang der Bevölkerung,
von 979 Einwohnern auf 702. In diesen 30 Jahren fand eine grosse Auswanderung
statt. Von 1834 bis 1875 hatten die Leute eine Anzahl schlechter Jahre. Und
gerade zu dieser Zeit wurde Amerika als das gelobte Land beschrieben. Die Hoffnung,
bessere Lebensbedingungen und grösseren Verdienst zu finden, bewog
Hunderte nach Amerika auszuwandern. Es war wie eine ansteckende Krankheit.
Die meisten haben ihre Heimat nie mehr gesehen. Die spärlichen Nachrichten
berichteten, dass auch in Amerika nicht nur Rosen wuchsen. Doch hatten viele
auch Glück und brachten es zu grösserem Wohlstand als dies in Tujetsch
möglich gewesen wäre. Nach einer Zusammenstellung von Prof.
Guglielm Gadola sind von 1850 - 1910 über 240 Personen nach Amerika ausgewandert.
Eine kleinere Zahl zog auch nach Deutschland, namentlich nach Bayern. Dieses
Land war manchen aus der Zeit der Schwabengängerei bekannt.
Schicksale
Tujetsch musste aber schon zwischen 1500 und 1600 stark bevölkert sein.
Nach dem Jahrzeitbuch von 1456 und anderen Aufzeichnungen sollen 1558 im Tujetsch
600 Personen an der Pest gestorben sein, 1568 wieder 200 und in den Jahren 1584
und 1585 nochmals 800 Personen an der gleichen Krankheit. Sehr viele konnten
da nicht mehr übrig geblieben sein und man muss wirklich staunen,
dass innert ungefähr 250 Jahren, bis 1835, die Bevölkerungszahl wieder
auf 1121 Personen gestiegen war. Bei den letzten bekannten Pestkrankheiten im
Jahr 1635 und 1637 starben jeweils weitere 70 Personen.
Böse Jahre, wenn auch
nicht in solchem Ausmasse, hatte Tujetsch später noch verschiedene Male.
Am 6. Februar 1749 begrub eine Lawine 62 Personen und 237 Stück Vieh im
Dorfe Rueras. 23 Häuser, 39 Ställe, 33 Speicher, 5 Mühlen und
eine Sägerei wurden zerstört. Anfangs lagen über 100 Personen
unter den Schneemassen. Von den noch nach 15-20 Stunden Ausgegrabenen waren
viele in einem traurigen Zustande, voll Wunden und Knochenbrüchen. Mehrere
starben noch kurze Zeit später. Im Jahre 1808 fanden 25 Personen in Selva
durch eine Lawine den Tod und 1817 nochmals in Rueras 28 Personen. Im Laufe
des 18. Jahrhunderts war Selva sehr stark durch Lawinen gefährdet, so dass
man den Entschluss fasste, Selva zu dislozieren und in Sut Cretsas neu aufzubauen.
Die Ausführung dieses Projekts begann um 1849. Einige Jahrzehnte zogen
die Selvaner jeweils zur Winterzeil nach Sut Crestas, wo auch eine Kapelle mit
Schulzimmer aufgebaut wurde. Der Beginn der Aufforstung des Waldes oberhalb
Selva im Jahr 1890 brachte dann mit den Jahren die nötige Sicherheit für
Selva.
Auch verschiedene Brände brachten gross Trauer über das Tal. 1785
brannte das Dorf Selva vollständig nieder, 1949 wieder fast ganz.
Das gleiche Schicksal traf auch Camischolas am 11. Juli 1822.
Sprache
Als Sprache herrschte immer das Romanische im Tujetsch. Wenn die deutschen Einwanderer
im oberen Teil des Tales ihre Muttersprache auch lange behielten (bis 16. Jahrhundert),
nach und nach nahmen sie doch die romanische Sprache an. Eine Folge der späteren
Annahme des Romanischen besteht noch heute. Die Bewohner von Selva und Tschamut
sprechen eine Anzahl Wörter noch heute nach der Schriftsprache aus und
nicht nach dem Dialekt des Tales. So sagen sie z.B. für Kind affon, während
die Tujetscher uffaun sagen. Andere Beispiele: caglia (Strauch) statt tgaglia;
marenda (Vesperbrot) statt marianda; venter (Bauch) statt vianter; ensemen (zusammen)
statt ansiamen. Eine andere Theorie besagt jedoch, dass dieser Sprachunterschied
dem Einfluss der fremden Geistlichen und einiger Einwanderer aus dem übrigen
Oberland zuzusprechen sei.
Tujetsch war eine abgelegene Gegend. Mit Ausnahme einer Anzahl Handwerker bestand die Bevölkerung aus Bauern und ihr Sprachschatz hätte wohl wenige Seiten eines Wörterbuches ausgefüllt als heute. Dieser Zustand hat mehr oder weniger bis ins 20. Jahrhundert gedauert. Einzelne deutsche Ausdrücke mögen zur Zeit der Schwabengängerei im 18. und 19. Jahrhundert ins Tal gebracht worden sein. Heute, wo so viele Fremde unser Tal besuchen, ist die Kenntnis der deutschen Sprache verbreiteter und auch notwendiger. Aber es wäre sehr zu bedauern, wenn diese das Romanische verdrängen würde. Da hängt natürlich vieles von den Einheimischen ab. Wollen sie vom Bodenständigen so viel wie möglich erhalten, dürfen nicht nur Konzessionen gemacht werden. Wieviel Kulturelles, an dem auch unsere Gäste Freude haben, würde sonst verloren gehen.
Die
letzten Jahre
Durch die seit 1960 stetig steigenden Steuer- und Wasserzinseinnahmen konnte
die Gemeinde immense Summen für den Ausbau der Infrastruktur investieren.
Das jährliche Bauvolumen der Gemeinde betrug während der letzten 20
Jahre um die 12 bis 15 Mio. Fr. Eine Zahl von 30 bis 40 Neuwohnungen wurden
pro Jahr erstellt. Heute zählen wir in Tujetsch über 700 Ferienwohnungen.
1959 und 1962 | Bau von zwei Schulhäusern in Rueras und Sedrun |
1962 | Skilifte in Dieni -Milez -Cuolm Val |
1969 | Erwerb und Ausbau des Altersheimes s.Vigeli in Sedrun |
1970 | Melioration und Gütterzusammenlegung (Beginn) |
1972 | Bau der Zivilschutzanlage |
1975 | Bau des Gemeidehauses (Tgèsa communala) |
1975 | Zonenplanung und Bauordnung |
1979 | Eröffnung des Elektrizitätswerkes Val Giuv |
1985 | Bau der ARA und des dazugehörenden Kanalisationsnetzes |
1986 | Erröffnung de Museums La Truaisch |
1987 | Buchausgabe zur Geschichte der Gemeinde |
1987 | Erwerb des Hallenbades |
1989 | Neubau des Altersheimes für ca. 2,5 Mio. Fr. |
Landwirtschaft
Von der Landwirtschaft leben heute kaum noch 20% der Bevölkerung. Zurzeit
zählt man noch 30 Betriebe mit Grossvieh, 10 Betriebe mit Kleinvieh und
zusätzlich noch 7 Nebenbetriebe mit Kleinvieh.
Die Anzahl der 183 landwirtschaftlichen Betriebe im Jahre 1939 schrumpfte bis
heute auf die Zahl von total 29 (1996) Betriebe zusammen.
Forstwirtschaft
Wie in anderen Berggemeinden war auch die Forstwirtschaft früher die grösste
Einnahmequelle der Gemeinde Tujetsch. Jedoch im Zeitintervall der letzten 50
Jahre wurde sie zu einem regelrechten Sorgenkind.
Durch die steten Rodungen im letzten Jahrhundert, gefolgt von zusätzlichen
Waldkatastrophen, wurde die Waldfläche sehr stark dezimiert. In schneereichen
Wintern lösten sich immer wieder grössere Lawinen von den Steilhängen
und zerstörten überall an exponierten Flächen den kärglichen
Bannwald. Davon tangiert war mehrheitlich die Waldfläche auf der
linken Talseite, aber insbesondere stark der ganze Schutzwald von Selva. Die
Katastrophe war nun vorprogrammiert, denn der Wald hatte keine Möglichkeit
mehr, sich zu erholen. Die Lawinen und Rüfenniedergänge bedrohten
überall zum Teil ganze Ortschaften, sowie auch die Zufahrtswege. Im Zuge
der Zeit wurde die Gemeinde immer wieder von grösseren Lawinenkatastrophen
heimgesucht und die Zahl der Lawinentoten übersteigt weit die Zahl von
200.
Um von dieser Naturgeissel befreit zu werden, mussten die kargen Schutzwälder
saniert werden. Dazu mussten vorerst Lawinenverbauungen gebaut werden, darnach
folgte die Aufforstung und der Bau von Waldstrassen. Damit angefangen
hat man bereits im Jahre 1890, und somit sind bei uns Waldverjüngungen
in allen Stadien zu bewundern, so in Tschamut und Selva. Gesamthaft wurden
ca. 150 ha Wald neu aufgeforstet, und man wendete dafür eine Summe von
weit über 25 Mio.Fr. auf.
Zu erwähnen ist auch die jüngste Zerstörung des Waldes in der
Gemeinde Tujetsch, und zwar durch den Orkan Vivian im Februar 1991. Dabei wurde
eine Flàche von m2 Wald zerstört.
Am schwierigsten betroffen wurde der Wald oberhalb des Weilers Bugnei.
Arealstatistik
Mit 13400 ha Gesamtfläche ist Tujetsch die 11 grösste Gemeinde Graubündens
und sie kann sich in Sachen Grösse beinahe mit dem Kanton Appenzell i.
Rhoden messen.
Die unproduktive Fläche mit Gebirge und Geröllhalden misst 46%. Die
Magerwiesen, Alp- und sonstigen Weiden beanspruchen 42% des Gemeindeterritoriums.
Die restlichen 12% teilen sich auf in 7% Waldfläche und in bloss 5% gutes
Kulturland.
Geographische
Lage
Die Gemeinde Tujetsch schliesst den obersten Abschnitt des Bündner-Oberlandes
ab und gehört dem Kreise Cadi oder auch der Region Surselva an. Im Norden
und Westen grenzt die Gemeinde mit dem Kanton Uri, im Süden mit dem Kanton
Tessin und im Osten mit den Nachbargemeinden Disentis und Medel.
Die Talschaft wird im Norden mit dem Aaremassiv und im Süden mit dem Gotthardmassiv
umschlossen. Dazwischen steht das Tujetscher-Zwischenmassiv, eine geologisch
sehr interessante Gebirgsformation, die ein sehr reiches Vorkommen an Kristallen
und Mineralien aufweist.
Auf Gemeindegebiet zählen wir 14 Berge die höher als 3000 M.ü.M.
sind.
Der Rhein, der längste Strom Europas, entspringt dem Tomasee auf 2'342
M.ü.M. am Fusse des Piz Badus. Die lange Reise von der Rheinquelle
bis in die Nordsee misst nicht weniger als 1350 Km.
Die Dörfer liegen vorwiegend auf der Talsohle auf einer mittleren Höhe
bei 1450 M.ü.M. Tschamut ist die höchstgelegene Siedlung der Gemeinde
und liegt auf 1667 M.ü.M.
Sedrun ist Hauptort der Gemeinde. Dazu gesellen sich zusätzlich noch
zehn Dörfer oder kleinere Ortschaften: Tschamut, Selva, Dieni, Rueras,
Zarcuns, Camischolas, Gonda, Bugnei, Surrein und Cavorgia.
Das
Klima
Das Klima kann allgemein als rauh eingestuft werden, denn die langjährige
mittlere Jahrestemperatur beträgt 4,6 Grad Celsius, bei einem Junimittel
von 14 Grad Celsius und einem Januarmittel von -5 Grad Celsius.
Die jährliche Niederschlagsmenge wird in der Kulturlandzone mit 1240 mm
und im Alpengebiet mit 2000 mm angegeben. Die Anzahl der Niederschlagstage variiert
im Jahr um 125 bis 135 Tage. In der Talsohle besteht oft Frostgefahr, dies weil
einerseits der Nordwind durch die Seitentäler Strem, Milar und Giuv sowie
andererseits der Föhn durch die südlichen Täler Nalps und Curnera
freien Zugang zum Tal haben. Dafür ist der Nebel bei uns ein seltener
Gast.
Bevölkerung
Zurzeit, 1999, beherbergt Tujetsch total 1748 Einwohner, davon 807 Frauen, 941
Männer. Die Statistik der Bevölkerungsentwicklung weist in diesem
Jahrzehnt einen steten positiven Trend auf. Die erfreuliche Zahl von ca.
190 Schulkindern wird in den beiden Schulhäusern von Sedrun und Rueras
unterrichtet.
Zur römisch-katholischen Konfession bekennen sich rund 95% der Tujetscher.
Die rätoromanische Muttersprache wird noch von 87% der Einwohner gesprochen
und wir sind zuversichtlich, dass man dies auch in Zukunft in dieser Grössenordnung
halten kann.
Die Erwerbstruktur der Gemeinde gliedert sich wie folgt:
40% | Beschäftigte im Baugewerbe und im Handwerk |
6% | in der Industrie |
34% | im Dienstleistungssektor (Tourismus) |
20% | in der Landwirtschaft |
Das einheimische Gewerbe bietet heute rund 170 Ganzjahresstellen an und ermöglicht in der Gemeinde die Ausbildung von 17 verschiedenen Berufen.
Tourismus
Bereits um die Jahrhundertwende kamen die ersten Skifahrer über die Oberalp.
Die Gründung des Skiklubs Sedrun erfolgte im Jahre 1914 und bereits im
Jahre 1929 erfolgte die Gründung der Skischule Sedrun. Die Ersterschliessung
des Skigebietes erfolgte im Jahre 1956 mit der Sesselbahn Cungieri. 1962 folgte
die Gründung der Ski- und Sesselbahn AG, an welcher die Gemeinde noch immer
51% des Aktienkapitals besitzt. Damit war eigentlich der Beginn des Fremdentourismus
in Tujetsch gegeben.
Die Bergbahnen Sedrun/Rueras
AG betreiben heute gesamthaft 14 Transportanlagen, 4 Sesselbahnen und 9 Skilifte.
Die Transportkapazität übers Winterhalbjahr beträgt weit über
2,5 Mio/Fahrten. Zusätzlich werden noch 3 eigene Bergrestaurants im Skigebiet
von der Gesellschaft selber betrieben.
Vom Tourismus leben heute direkt oder indirekt beinahe 90% der Bevölkerung.
Seit 1960 wurden bis anhin über 700 Ferienwohnungen erstellt. Mit den über
5250 Gästebetten, davon ca. 500 in der Hotelerie, werden jährlich
über 330'000 Uebernachtungen erzielt, 1/3 im Sommer und 2/3 im Winter.
Quellen:
Surselva News WWW
Geschichtliche Notizen T.Hendry
Gemeindearchiv Tujetsch
Gion Beer, Sedrun 1991
Vielen herzlichen Dank